Vesperkirchen

Das Konzept der Vesperkirche Augsburg finden Sie >> hier

Zehn Thesen zur Vesperkirche von Dr. Martin Dorner

aus Mit Gott und dem Nächsten am Tisch – Eine theologisch-empirische Studie zur Vesperkirche, Universität Regensburg 2017.

1. Gäste wählen das Bild vom „Gasthaus“ oder den Bezugsrahmen „Kneipe“, um sich und anderen die Attraktivität von Vesperkirche zu erklären. Die lebhafte, genuss- und lustbetonte Seite der Vesperkirche ist neben dem Spareffekt ein Grund für ihre große Attraktivität. Die Lust mit Anderen im Gottesdienstraum zu essen, zeigt sich an dem gaststättenähnlichen „Soundteppich“. Vesperkirche heißt auch Lautstärke und Emotionen, bzw. Vesperkirche dient auch als Kneipenersatz.

2. Vesperkirche bringt christliches Ethos, diakonischen Dienst und charakteristische Merkmale der Eventkultur zusammen. Vesperkirche ist auch ein Event für Mitarbeiter und Gäste. Diese Form von Kirche macht Spaß, ist stark gemeinschaftsfördernd und auch eine Werbung für die Evangelische Kirche.

3. Gäste erleben die Vesperkirche mit ihren Gastgeberinnen und Gastgebern als offenen und geschützten Ort, in dem alle gleich behandelt werden. So steht die Vesperkirche auch vielen Menschen mit psychischen Erkrankungen offen und macht ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich. In ihren Augen handeln die Gastgeber aus christlicher Nächstenliebe. Vesperkirche heißt auch, das Gesetz Christi zu erfüllen.

4. Vesperkirche ist eine Inszenierung, bei der alle mitspielen können, die sich darauf einlassen. Für die begrenzte Zeit von einigen Wochen wird der Kirchenraum zur Spielfläche und „drinnen“ gelten oder entstehen alternative Regeln und Verhaltens- und Gesprächsgewohnheiten als „draußen“. Vielen Mitspielern gelingt es, ihren sozialen Status oder ihre habituellen Gewohnheiten abzulegen. Der Gottesdienstraum trägt dazu bei, dass sich das Ansehen oder das Rollenempfinden der Ehrenamtlichen teilweise auch in einem geistlich zu verstehenden Sinne (Priestertum aller Getauften) verändert. Auch Pfarrerinnen und Pfarrer können sich auf dieses Spiel einlassen, indem sie z.B. Gäste bei Tisch bedienen. Vesperkirche hat auch eine spielerische Seite.

5. Die Frage nach der oder den „richtigen“ Zielgruppen unter den Vesperkirchengästen ist bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch nicht ausdiskutiert. Die „1 € Kassenregel“ ist so einfach und gleichzeitig so provokant, dass das damit verbundene theologische und gesellschaftliche Ziel gegenüber den Mitarbeitern und Gästen immer  wieder neu kommuniziert werden muss. Vesperkirche hat auch eine konfliktträchtige Seite.

6. Gäste verbinden mit dem Effekt Kirchenraum einen so hohen Grad an Emotionalität, dass aus den Esstischen Tische werden, an denen sie sich untereinander und mit Gott verbunden fühlen. Und: Das Essen in der Atmosphäre des Kirchenraumes wird mit dem Abendmahl („praktiziertes Abendmahl“) und dem Gottesdienst in eins gesetzt, bzw. der Übergang zwischen dem geselligen Essen und dem liturgischen Essen wird als fließend erachtet. Vesperkirche ist auch Liturgiereform.

7. Diakonisches Engagement unterschiedlicher Generationen, authentische Begegnungen mit Anderen und spirituelle Praxis sind durch die Institution Vesperkirche gleichzeitig an einem einzigen Ort zu erleben. Das „Modell Nürtingen“ setzt dabei ganz besonders auf die Zusammenarbeit erwachsener Ehrenamtlicher mit Schülerinnen und Schülern. Vesperkirche ist auch ein Lernort sozialer Bildung für alle Generationen.

8. Vesperkirche ist eine für die eigene Existenz relevante und attraktive Kirche. Gäste der Vesperkirche fragen Verantwortliche in anderen Kirchengemeinden: Warum ist diese Praxis nicht überall möglich? Vesperkirche heißt auch Kirchenreform.

9. In Vesperkirchen machen Gäste, die nicht zur bildungsbürgerlichen Mitte der Gesellschaft gehören, keine Erfahrung habitueller Ablehnung. Sie sind „normale Gäste“ und keine „Hilfsbedürftigen“ oder „Klienten“, für die ihre Gastgeber Zeit und Interesse haben. Die Gäste leisten dabei ihren eigenen Beitrag, damit Vesperkirche gelingt. Sie beteiligen sich finanziell, sich setzen sich zu Anderen an den Tisch oder werden selber zu Mitarbeitern. Vesperkirche ist auch die Überwindung kirchengemeindlicher Befangenheit in herkömmlichen Milieus.

10. Der besondere „Nährwert“ von Vesperkirche besteht darin, im Gottesdienstraum nicht nur über Texte zu sprechen, sondern ein Urbild von Kirche als einer offenen Tafelgemeinschaft für die Bedürfnisse von Menschen des 21. Jahrhunderts zu übersetzen und auszuprobieren. Vesperkirche ist auch geistlich-leibliche Neuerschließung des Kirchenraumes.